Wie viel schulde ich meinen Eltern?

23. Februar 2023

Den eigenen Weg zu gehen, ist für eine Tochter chinesischer Eltern ­keine Selbstverständlichkeit - besonders, wenn erwartet wird, dass man die Eltern bis ins hohe Alter pflegen sollte. Evelyn Shi ist dabei zu lernen, Grenzen zu setzen. Dennoch fragt sie sich, wie viel Fürsorglichkeit sollte drin sein? Und wie viel schuldet sie ihren Eltern wirklich?

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Evelyn Shi, Foto: Mafalda Rakoš

Von Evelyn Shi, Foto: Mafalda Rakoš

 

Du hast kein Gewissen“ ist ein Satz, den ich oft gehört habe, wenn ich meinen Eltern widersprochen habe. Ich glaube, wenn man mit strengen Eltern aufwächst, wird man entweder ganz gefügig oder ganz rebellisch. Mein Bruder wuchs in die gefügige Rolle und ich in die rebellische. Es ist nicht selbstverständlich, dass ich meinen eigenen Weg gegangen bin und nicht dem Plan meiner Eltern folgte. Ich war immer eifersüchtig auf meine Freund:innen, die viel Freiheit von ihren Eltern bekommen haben. Ich durfte nicht ausgehen, nicht bei anderen übernachten, weil ich sonst ein Kind wäre, das „nichts Gutes wolle“. Das werfe ich meinen Eltern nicht vor, denn sie haben ihr Bestes gegeben – nur sind wir in und mit einer anderen Kultur aufgewachsen als sie, und das hat alles schwieriger gemacht.

Meine Eltern sind beide in den 80ern von China nach Wien emigriert. Aufgewachsen in Armut haben sie die 10-jährige Kulturrevolution in China überlebt, wo mein Vater in der Mine gearbeitet hat, während meine Mutter nicht in die Schule gehen konnte, da "Bildung der Feind" war. Meine Eltern haben es schließlich rausgeschafft, was damals gar nicht selbstverständlich war. Mein Vater hat in Wien studiert, und meine Mutter ist mit der Transsibirischen Eisenbahn gekommen. Davon hat sie einige witzige Storys und wenn ich sie höre, bewundere ich sie immer für diese Reise, wo sie sich mit Händen und Füßen verständigt hat und im Zug sogar irgendwie einen Pelzmantel gegen chinesische Seidenprodukte eingetauscht bekommen hat. Mein Vater fuhr immer wieder per Anhalter nach Ungarn, um dort Lippenstifte zu verkaufen. Ich weiß nicht, woher er sie hatte, aber sie waren zu der Zeit anscheinend in Mode und gut zu verkaufen. Sie standen täglich auf Flohmärkten und verkauften Seide, Tigerbalsam und andere Produkte aus China.

Meine Eltern hatten damals auch einen großen Kinderwunsch. Oder besser gesagt: einen Wunsch nach einem Sohn. In China nimmt der Sohn eine wichtige Stellung ein. Er gibt den Familiennamen weiter und erbt das Vermögen. Er wird das Familienoberhaupt und kümmert sich um die anderen. In China werden daher viele weibliche Föten abgetrieben. Die mittlerweile abgeschaffte Ein-Kind-Politik diente dazu als weiterer Katalysator – sie war aber nicht der einzige Grund für diese medizinischen Eingriffe. Viele kämpf(t)en mit ihren finanziellen Situationen, weswegen es sich oft nicht „auszahlt“, ein Mädchen zu bekommen. Die Tochter wird ja schließlich in eine andere Familie eingeheiratet und führt die andere Familienlinie weiter. Eine Frau sollte so früh wie möglich heiraten. 27-jährige unverheiratete Frauen werden „shèn nü“ genannt, übersetzt „übergebliebene Frauen“. Kurz nach meiner Geburt zog mein Vater zurück nach China, wo er genug Geld verdienen konnte, um mich, meinen Bruder und unsere Mutter zu versorgen. Er entschied sich also für die Familie, indem er von der Familie wegzog.

 

Die verlorene Eigenständigkeit ist meine Schuld

Meine Mutter zog uns in Wien auf und musste das alleine neben ihrer Arbeit und den Fahrstunden arrangieren. Die Sprache konnte sie nicht. Sieben Jahre lang – bis mein Bruder die chinesische Samstagsschule begann – hatte sie auch keine Freund:innen. Aus der Frau, die alleine von China nach Österreich gereist ist – ihre erste Auslandsreise – war eine Frau geworden, die im Wartezimmer des Arztes eine Stunde auf mich warten muss, damit ich für sie ein einfaches Kontrollgespräch übersetze. Von der Eigenständigkeit und dem Mut, den sie früher hatte, sehe ich mittlerweile wenig. Und ich sehe mich mitschuldig daran, weil ich dazu beigetragen habe, dass sie ihre Eigenständigkeit verloren hat. Diese Schuldgefühle kamen von ganz alleine, durch meine Erziehung. Das ist eine Last, mit der ich mir sehr schwertue. Ich möchte fürsorglich für meine Mutter da sein – aber ich fühle oft die Sorge, dass meine Mutter vereinsamt, unglücklich ist oder ihren Alltag nicht auf die Reihe kriegt. Ich mache mir Sorgen um sie, wie eine Mutter sich Sorgen um ihre Kinder macht.

Es ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden, unseren Eltern ihre Aufgaben abzunehmen. Mittlerweile geht es hier nicht mehr nur um Übersetzungen bei Arzt- oder Behördenbesuchen, sondern auch um einfache Sachen wie kopieren, Medikamente holen – Alltagssachen also, die sie grundsätzlich auch alleine bewältigen könnten. Wenn sie sich nicht schon so daran gewöhnt hätten, dass wir das für sie erledigen. Was auch bedeutet, dass sie es uns vorwerfen, wenn es nicht erledigt wird. Wenn ich meine Woche plane, muss ich also immer auch Zeit einplanen für Erledigungen für meine Eltern. Was grundsätzlich okay ist, was aber in Kombination mit meinen psychischen Erkrankungen – Depressionen und Borderline – auch Energie und Zeit fordert, die ich nicht habe.

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"Heute weiß ich: Ich schulde meinen Eltern nichts.", Foto: Mafalda Rakoš

Kein „Entweder – Oder“

Lange Zeit hielt ich es für meine Schuld, wenn irgendetwas nicht funktionierte oder Konflikte in der Familie entstanden. Weil ich den einen Termin nicht rechtzeitig ausgemacht hatte. Oder einen Brief nicht rechtzeitig abgeschickt hatte. Weil ich immer noch dieses eine Dokument nicht kopiert und ihr gebracht hatte. So Aufgaben, die man öfters nach hinten schiebt, nur sind es nicht Aufgaben für mich, sondern es hängt von mir ab, dass die Aufgaben meiner Mutter gemacht werden. Viele meinen, ich solle mich einfach unabhängig machen von meinen Eltern und mein eigenes Leben führen, dann wäre ich auch den Streit und die Last los. Aber das kommt vor allem von Menschen, die hier aufgewachsen sind und ein anderes Verständnis von Familie und Verantwortung für die Familie haben. Sie verstehen nicht, dass es kein Entweder-Oder sein sollte.

Heute weiß ich: Ich schulde meinen Eltern nichts. Das bedeutet ganz und gar nicht, dass es nicht meine Aufgabe sein sollte, für sie zu sorgen. Diese Fürsorge hat aber ihre Grenzen und sollte unter normalen Umständen keine grundlegende Sorge um sie sein. Ich kann nur mein Bestes geben, sie in ihrem Alltag zu unterstützen, ohne meine eigenen Interessen vollkommen hintanzustellen. Ich kann nur mein Bestes geben, indem ich ihnen meine Grenzen zeige und mich nicht für Sachen darüber hinaus verantwortlich fühle. Auch mein Mitleid muss sich daher in Grenzen halten, weil ich sonst Gefahr laufe, mich mehr um sie zu sorgen als um mich selbst. ●

 

 

Evelyn ist ist 27 Jahre alt und Klubvorsitzende der Neos in Döbling. Sie hat chinesischen Migrationsbackground und befasst sich mit Themen wie psychische Erkrankungen und mentale Gesundheit.

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